Verkehrssicherungspflicht und Lichtraumprofil

a. Das ökologische Interesse an der Erhaltung des Baumbestandes

Die Urteile zur Freihaltung des Lichtraumprofils über der Straße fallen in der Regel unter die als baumfreundlich zu bezeichnende Rechtsprechung. Das zeigt bereits ein Urteil des OLG Schleswig vom 7. April 1993.

Auf einer Straße von geringer Verkehrsbedeutung am Ortsrand von Kiel war ein Lkw gegen einen unterhalb von 4 m Höhe in die Fahrbahn ragenden Ast gestoßen und beschädigt worden. Das Gericht verneinte eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht der beklagten Stadt, weil die Straße in dem abgelegenen Vorort erfahrungsgemäß überwiegend den Anliegern diene und der Lkw-Fahrer den deutlich in die Fahrbahn ragenden Ast habe erkennen und ihm ausweichen können. Das Gericht fordert in dem Urteil sogar von dem Lkw-Fahrer, dass er bei Entgegenkommen eines anderen Fahrzeugs seine Geschwindigkeit weiter hätte verringern und notfalls anhalten müssen, falls er einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu dem Baum nicht hätte einhalten können. Entscheidende Bedeutung kommt der nachfolgenden Passage aus den Urteilsgründen zu:

„Die Verkehrssicherungspflicht erfordert es nicht, den Luftraum über einer Straße schlechthin in der nach den §§ 32 Abs. 1 Nr. 2 StVZO, 22 Abs. 2 StVO für Fahrzeuge geltenden maximal zulässigen Höhe von 4 m freizuhalten …. Wie in den letzten Jahren zunehmend ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, besteht an der Erhaltung des Baumbestandes auch an öffentlichen Straßen ein allgemeines Interesse, so dass zwischen den Belangen der Verkehrssicherheit und dem ökologischen Interesse an der Erhaltung des Baumbestandes abzuwägen ist…

Hierbei ist den ökologischen Interessen an Straßen von nur geringer Verkehrsbedeutung in höherem Maß Rechnung zu tragen, als an Straßen von erheblicher Verkehrsbedeutung. . . .

Bestimmend für die Verkehrsbedeutung sind die Umstände des Einzelfalles, die Art und das Maß der Verkehrssicherungspflicht nach den gegebenen Verkehrsverhältnissen wie nach der Art des Weges, seiner Verkehrswichtigkeit, der Größe einer Ortschaft und ähnlichem festlegen.“

b. Lichtraumprofil

Das Oberlandesgericht Hamm hat in einem Urteil vom 17.5.1994 deutlich gemacht, dass es keine rechtliche Vorschrift gibt, welche besagt, dass der Luftraum über einer Straße in jedem Fall bis zu einer Höhe von 4 m frei von Hindernissen und speziell von Baumästen gehalten werden muss. Die Höhenbegrenzung von Fahrzeugen auf 4 m in der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) ist keine solche Vorschrift. Es gilt vielmehr die allgemeine Verkehrssicherungspflicht, und diese richtet sich insbesondere nach der Höhe des Verkehrsaufkommens.

Der Entscheidung des Oberlandesgerichts Hamm lag folgender Fall zugrunde. Ein Möbel-Lkw hatte auf einer innerörtlichen Wohnstraße in Essen einen leicht in die Fahrbahn geneigten Stamm einer Platane in 3,50 m Höhe gestreift. Den hierbei entstandenen Schaden an dem Lkw sollte die beklagte Stadt wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht ersetzen. Das Landgericht Essen wies jedoch die Klage des Geschädigten ab. Nach Ansicht des Gerichts hätte der Fahrer des Möbel-Lkw dem erkennbaren Hindernis ausweichen müssen. Es bestehe keine generelle Pflicht, den Luftraum über der Straße in 4 m Höhe freizuhalten. Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich des Lichtraumprofils richte sich jeweils nach der Verkehrsbedeutung der Straße.

Das Oberlandesgericht Hamm bestätigte dieses Urteil des Landgerichts Essen unter grundsätzlichen Überlegungen zur Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich des Lichtraumprofils:

„Zwar umfasst die Verkehrssicherungspflicht für öffentliche Straßen nach anerkannter Rechtsprechung grundsätzlich auch den Schutz vor Gefahren, die von Straßenbäumen ausgehen, deren Stämme oder Äste in den Luftraum über die Fahrbahn ragen und zu Beschädigungen an Fahrzeugen mit hohen Aufbauten führen können. Dabei sind jedoch die an den Sicherungspflichtigen zu stellenden Anforderungen nicht für alle Straßen gleich hoch bemessen.

Etwas anderes folgt insbesondere nicht aus § 32 Abs. 1 Satz 2 StVZ, wie das Landgericht zutreffend ausgeführt hat. Die in dieser Regelung festgesetzte Höhenbegrenzung der Fahrzeuge auf vier Meter betrifft eine zulassungsrechtliche Bauvorschrift und besagt nicht, dass der Luftraum über einer Straße in jedem Fall bis zu dieser Höhe frei von Hindernissen – und damit auch von Baumstämmen und Ästen – gehalten werden muss (BGH VersR 68, 72; ständige Rspr. des Senats, zum Beispiel 9 U 113/91; so auch OLG Schleswig VersR 94, 359; OLG Köln VersR 91, 1265).

Der Umfang der gebotenen Sicherungsmaßnahmen hängt vielmehr – wie auch in den sonstigen Fällen der Verkehrssicherungspflicht – maßgebend von der Sicherheitserwartung der Verkehrsteilnehmer ab, soweit diese sich im Rahmen des Vernünftigen hält. Diese Erwartung ist aber nicht auf lückenlose Gefahrlosigkeit gerichtet, da ein solcher Zustand auch nach der Einsicht der durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer praktisch nicht erreicht werden kann. Der Sicherungspflichtige muss daher auch in diesem Bereich nur diejenigen Gefahren ausräumen oder vor ihnen warnen, die für einen durchschnittlich sorgfältigen Benutzer nicht oder nicht rechtzeitig erkennbar sind, und auf die er sich nicht oder nicht rechtzeitig einzustellen vermag.

Aufgrund dieser notwendigen Begrenzung der gebotenen Sicherheitsvorkehrungen kann von den Führern außergewöhnlich hoher Fahrzeuge – wie etwa von Möbelwagen – auf Straßen von geringer Verkehrsbedeutung erwartet werden, dass sie ihre Aufmerksamkeit auch auf den „Luftraum“ der von ihnen befahrenen Strecke richten und vorsorglich einen seitlichen Sicherheitsabstand zu den am Straßenrand stehenden Bäumen einhalten. Daher dürfen die Fahrer solcher Fahrzeuge nur bei verkehrswichtigen Straßen davon ausgehen, dass keine Straßenbäume mit ihrem Stamm oder einem Ast in das Lichtraumprofil der Fahrbahn hineinragen oder dass sie vor derartigen Hindernissen zumindest besonders gewarnt werden.

Eine solche Differenzierung ist auch sachgerecht, da die Konzentration der Kraftfahrer auf verkehrsärmeren Straßen nicht in demselben Maße durch das Verkehrsgeschehen beansprucht wird wie dies auf Strecken mit hohem Verkehrsaufkommen der Fall ist. Daher hat der Senat der Funktion und Verkehrsbedeutung der jeweiligen Straße auch bei der Freihaltung des Lichtraumprofils von Hindernissen seit langem eine wesentliche Bedeutung beigemessen.

Die hiergegen gerichteten Einwände der Kläger geben keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Weder die allgemeine Verkehrszunahme noch die besondere Verkehrsdichte in Nordrhein-Westfalen hindern die Fahrer besonders hoher Fahrzeuge daran, bei der Benutzung verkehrsärmerer Straßen ein besonderes Augenmerk auf den ihnen zur Verfügung stehenden Lichtraum zu richten und ihre Fahrweise entsprechend einzurichten.“

Das OLG Brandenburg hat in einem Urteil vom 16.5.1995 eine ähnliche Richtung eingeschlagen, in dessen Leitsätzen es heißt:

„Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht richtet sich nach der Erkennbarkeit der Gefahrenquelle, dem Grad der Frequentierung und der Breite der Straße, der Höhe des in den Fahrbahnluftraum hineinragenden Gegenstands und der konkret an dieser Stelle zulässigen Höchstgeschwindigkeit.

Eine besondere Verkehrssicherungspflicht (Amtspflicht) zur Entfernung eines Astes oder zur Aufstellung eines Warnschilds besteht nicht, wenn der Ast bei einer 8 m breiten geradeaus verlaufenden Landstraße erster Ordnung in einer Höhe von 3,80 m 24 cm und erst in einer Höhe von über 4 m weitere 1,75 m bis 2 m in die Fahrbahn hineinragt.“

In den Entscheidungsgründen wird das Maß der Verkehrssicherungspflicht bei Straßenbäumen hinsichtlich des Lichtraumprofils wie folgt abgestuft:

„Das Maß der Straßenverkehrssicherungspflicht muss umso höher sein,

  • je weniger erkennbar die Gefahrenstelle ist,
  • je befahrener die Straße ist, was auch seinen Ausdruck findet in der Einordnung der Straße als Bundes- oder Landesstraße,
  • je schmaler die Straße ist, weil dann das Ausweichen vor der Gefahrenstelle erschwert und mit der Gefahr, auf die Gegenfahrbahn zu geraten verbunden ist,
  • je niedriger der hineinragende Ast ist, weil dann die Gefahr einer Kollision mit Aufbauten um so größer ist, je höher die zulässige Höchstgeschwindigkeit ist, weil dann eine angemessene Reaktion im Sinne eines Ausweichens oder Abbremsens um so weniger möglich ist.“

Das Urteil des OLG Dresden vom 2. Oktober 1996 befasst sich in ähnlicher Weise und noch eingehender mit den Anforderungen, die einerseits an das Freischneiden des Lichtraumprofils und andererseits an das Verhalten des Kraftfahrzeugfahrers auf Straßen mit Bäumen zu stellen sind. Hinsichtlich der Einhaltung des Lichtraumprofils gehen sowohl der Bundesgerichtshof (BGH VersR 1968, 72; BGHZ 60,54) wie auch die genannten Oberlandesgerichte davon aus, dass es die Verkehrssicherungspflicht nicht erfordert, den Luftraum über Straßen generell in der nach § 32 Abs.1 Nr.2 StVZO für Fahrzeuge geltenden maximalen Höhe von 4 m freizuhalten. Das OLG Dresden legt sich in seinen Entscheidungsgründen nicht auf die letztlich erforderliche Höhe mit Zahlenangaben fest. Es steht an keiner Stelle, dass für das Lichtraumprofil beispielsweise bis zu einer Höhe von 4,5 m Äste entfernt werden müssen. Es heißt nur, dass ein Fahrzeug mit 4 m Höhe die Straße gefahrlos benutzen können muss. „Bis zu welcher Höhe der Verkehrsraum von hereinragenden Ästen freizuhalten ist, hängt vielmehr von der Verkehrsbedeutung der Straße ab. Ihre Verkehrssicherheit und das ökologische Interesse an der Erhaltung alten Baumbestands sind gegeneinander abzuwägen.“

c. Anhaltepflicht

Das Schleswig-Holsteinische OLG hatte in seinem genannten Urteil vom 7. April 1993 bei einer Straße mit geringem Verkehr verlangt, dass der Fahrer notfalls hätte anhalten müssen, wenn die Straße bei entgegenkommendem Verkehr nicht breit genug zum Ausweichen gewesen sei. Das OLG Dresden hat diese Anhaltepflicht sogar dem Kraftfahrzeugführer auf einer Bundesstraße auferlegt. Er hätte, „wenn er wegen des Gegenverkehrs an dem Baum nicht mehr mit einem ausreichendem Abstand vorbeifahren konnte, vorher anhalten müssen, um den grob sorgfaltswidrig handelnden Überholer passieren zu lassen.“ Das OLG Dresden sah ein Mitverschulden in dem Nichtanhalten und rechnete auch die durch den hohen Aufbau des Lkw gesteigerte Betriebsgefahr hinzu, so dass sich der geltend gemachte Schadensersatzanspruch letztlich um 50 % minderte.

Die schiefstämmige, alte Linde wird immer wieder angefahren, obwohl sie von weitem zu erkennen ist und man außerdem auf die Problematik hinweist. Die beiden Aufnahmen zeigen die Entwicklung der Schadstelle von 2008 bis 2019.

Der Zivilprozess ist ein Beweisprozess. Insofern hat sich der Lkw-Fahrer, wenn er sich entlasten will, nachzuweisen, dass er dem in die Fahrbahn ragenden Ast nicht ausweichen und nicht anhalten konnte. Die Rechtsprechung geht grundsätzlich davon aus, dass derjenige, der auf ein Hindernis auffährt, entweder zu schnell oder unaufmerksam gefahren ist. Die Grundlagen einer solchen tatsächlichen Vermutung muss der mit einem in die Fahrbahn ragenden Ast kollidierende Kfz-Fahrer erschüttern, das heißt er muss in diesem Ausnahmefall seine Unschuld beweisen.

Das Mitverschulden des Geschädigten kann in einem unterschiedlichen Prozentsatz seinen Schadensersatzanspruch mindern, es enthebt den Baumeigentümer aber nicht von seiner grundsätzlichen Verkehrssicherungspflicht hinsichtlich des Lichtraumprofils. Diese Verkehrssicherungspflicht beinhaltet zwar nicht notwendigerweise, dass der Luftraum an allen Straßen gleichermaßen völlig in der für Fahrzeuge mit Maximalabmessungen notwendigen Höhe freizuhalten ist. Mit zunehmendem Verkehrsaufkommen sind aber strengere Maßstäbe an die Verkehrssicherungspflicht anzulegen. Dazu führt das OLG Dresden aus:

„Bei Straßen von erheblicher Verkehrsbedeutung, namentlich Bundesstraßen und Ausfallstraßen … erscheint es im Interesse der Verkehrssicherheit und des Schutzes der Rechtsgüter der Verkehrsteilnehmer unabweislich, dass der Verkehrsraum in dem Umfang, in dem er von Fahrzeugen mit den gesetzlich maximal zulässigen Abmessungen in Anspruch genommen werden kann, von Bäumen und Ästen ebenso wie von sonstigen störenden Einflüssen freigehalten wird … Dieser Schutz gilt für den Luftraum (,Lichtraum‘) über der Fahrbahn, wobei der Lichtraum über der Fahrbahngrenze nicht lotrecht, sondern nach dem Winkel zu ermitteln ist, … so dass auch der über dem äußeren rechten, nur noch vom Bordstein begrenzte Fahrbahnrand gelegene Luftraum verkehrsicherungspflichtig ist.“

Diese Feststellung des Gerichts ist für die Praxis beim Freischneiden des Lichtraumprofils, das heißt für die dabei vorzunehmenden Abmessungen, von Bedeutung.

d. Warnschilder

Beachtung verdient auch die nur in einem Nebensatz enthaltende Klarstellung des OLG Dresden, dass Warnschilder mit Hinweis auf ein eingeschränktes Lichtraumprofil, wie sie durch die StVZO zugelassen sind, nicht geeignet sind, die Haftung des Baumeigentümers für in die Fahrbahn hineinragende Äste auszuschließen. Das wird vielfach angenommen, weil Gerichte hier ein Mitverschulden des Kfz-Fahrers – je nach Fallgestaltung – angenommen haben. Aber allein durch Hinweisschilder lässt sich grundsätzlich keine Haftung ausschließen, sondern der Umfang der Haftung kann unter Umständen eingeschränkt werden. Das gilt in anderen Fällen der Verkehrssicherungspflicht ebenso für das Schild „Betreten auf eigene Gefahr“ wie für andere Hinweisschilder auf mögliche Gefahren. Allerdings, so führt das OLG Dresden mit Blick hier auf die Bäume an Bundesstraßen aus, „gelten für Überführungen mit niedrigen Durchfahrten insoweit Besonderheiten, weil sie deutlicher wahrnehmbar sind und weil vor ihnen auf leichtere und wirkungsvollere Art, nämlich durch Anbringen von Markierungen und Maßgaben gewarnt werden kann. Bei Bäumen bleibt dagegen, weil Hinweise durch Warnschilder nicht ausreichen (OLG Köln a.a.O., BGH VersR 1968, 73) und fahrbahnbeschränkende Maßnahmen regelmäßig ausscheiden, als einziges Mittel die Entfernung des Hindernisses“.

Das OLG Dresden, das offensichtlich falsche Schlussfolgerungen befürchtete, sah sich sofort im Anschluss an diese Feststellung in den Urteilsgründen zu dem Hinweis veranlasst: „Der Senat weist ausdrücklich darauf hin, dass zur Beachtung der Verkehrssicherungspflicht des ,Lichtraums’ ein generelles Fällen von Alleebäumen – auch entlang von Bundesstraßen – nicht erforderlich ist.“

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